Wie das Lernen mit Konzepten (besser) im Klassenzimmer ankommt

Ein Plädoyer für die empirische Erhebung von Schüler/innenkonzepten und –vorstellungen

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Lernen mit Konzepten

 

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GDÖ Tagung 2018

Didaktik am Donnerstag

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In den letzten Jahren wurden die Lehrpläne für das Fach Geschichte und Sozialkunde/ Politische Bildung suk- zessive erneuert. Dabei wurde der Lehrstoff in Module gegliedert, der Ausbau der Kompetenzorientierung konsequent weiterverfolgt und die Politische Bildung stark aufgewertet. Ziel war es, so Christoph Kühberger und Thomas Hellmuth im Kommentar für den Lehrplan der Sekundarstufe I, eine „neue Lernkultur“ zu etablieren, in der „der traditionelle Geschichts- und Politikunterricht, der sich in erster Linie auf chronologische ‚Meisterzählungen‘ und damit verbundene ‚Wahrheiten‘ konzentriert (Hellmuth 2016b, 3), in seiner Bedeutung zurückgedrängt wird. Von der Prämisse ausgehend, dass Vergangenheit und Produkte der Geschichtskultur sowohl die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern als auch die von Erwachsenen prägen und strukturieren, erhebt der moderne Geschichtsunterricht damit den Anspruch Lernende bei der Bewältigung ihres Lebens zu unterstützen. (Schreiber 2006, 14) Neben diesem ambitionierten Ziel ging fast unter, dass in den neuen Lehrplänen noch eine weitere geschichtsdidaktische Innovation verankert wurde: Das Lernen mit Konzepten bzw. das konzeptuelle Lernen. (Hellmuth 2016b, 3)

Die Idee des Lernens mit Konzepten ist dabei nicht neu. Sie hat ihren Ursprung in den Didaktiken der Natur- wissenschaften. (Kattmann 1997,6ff) Von Seiten der Geschichtsdidaktik wurde das konzeptuelle Lernen aufgegriffen, ausführlich diskutiert und an die domänenspezifischen Anforderungen des historischen Denkens und Lernens angepasst. (Günther-Arndt 2006, 27; Zülsdorf-Kersting 2007, 23) So wie die naturwissenschaftlichen Didaktiken geht auch die Geschichtsdidaktik davon aus, dass Vorstellungen und Konzepte im Zuge von Sozialisation und des Aufwachsens entwickelt werden, um die die unmittelbare Lebenswelt zu erklären, zu ordnen und zu fassen. Neues Wissen und neue Erfahrungen werden an Hand dieser subjektiven Konzepte bewertet, eingeordnet und verarbeitet. Mitunter können Konzepte und Vorstellungen adaptiert und so erweitert werden, dass sie besser zur Erklärung der Lebenswelt taugen. Umgekehrt kann neues Wissen oder können neue Erfahrungen aber auch als subjektiv irrelevant verworfen werden, wenn diese mit den lebensweltlich verankerten Konzepten und Vorstellungen (scheinbar) inkompatibel sind und eine Erweiterung keinen subjektiven Mehrwert verspricht. (Hellmuth 2016a, 3f) Da sich diese Konzepte und Vorstellungen bei der Erklärung und Bewältigung der Lebenswelt bewährt haben, haben sie einen hohen subjektiven Wert - unabhängig davon, ob sie aus wissenschaftlicher Perspektive haltbar sind oder nicht. (Günther-Arndt 2004, 218) Das führt auch dazu, dass lebensweltlich verankerte Konzepte und Vorstellungen gegenüber Veränderungsversuchen von außen, wie sie etwa im traditionellen Geschichtsunterricht vorkommen können, äußerst resilient sind.

Moderner, subjektorientierter Ge- schichtsunterricht, der sich dem Lernen mit Konzepten verpflichtet, setzt genau hier an. Er versucht die subjektiven, mehr oder weniger elaborierten Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern für den Prozess des historischen Denkens und Lernens nutzbar zu machen. Dazu müssen Lernräume geschaffen werden, in denen die Schüler/innen so mit neuen Inhalten, Informationen und Arbeitsaufträgen konfrontiert werden, dass diese bereit sind, bewährte Konzepte zu überdenken bzw. weiter zu entwickeln. (Kühberger 2015, 15-17; Hellmuth 2016a, 3) Die Arbeitsaufträge, Denkanstöße, Inputs und Informationen sind dabei an die vorhandenen subjektiven und lebensweltlich verankerten Vor- stellungen und Konzepte der Lernenden auszurichten, wozu die Lehrer/innen diese auch kennen müssen. (Kalcsics 2012, 21; Sander 2007, 24; Golser 2015, 54.)

Grundsätzlich kennen Lehrer/innen  ihre Klassen, ihre Schüler/innen gut. Sie haben Erfahrungswerte aufgebaut, welche Themen interessant sind und welche Vorstellungen und Konzepte Schüler/innen  zu verschiedenen Themen in den Unterricht mitbringen können. Daneben gibt es aber auch Vorstellungen und Konzepte, die im Verborgenen bleiben, die fremd sind, zu denen der Zugang fehlt bzw. die einfach auch nicht im Rahmen von Unterricht und/oder vor Lehrpersonen zum Ausdruck gebracht werden. Dazu kommt noch, dass sich die postmoderne europäische Gesell- schaft durch eine steigende Individualisierung und Diversifizierung auszeichnet und im Rahmen von Migrationsphänomenen neue Vor- stellungen und Konzepte zu den unterschiedlichen Themenbereichen des Geschichtsunterrichts hinzuge- kommen.

Dass Lehrer/innen bei der Gestaltung von Lernräumen auf ihre Erfahrung und ihr Gefühl verlassen müssen ist aus geschichtsdidaktischer Perspektive unbefriedigend. Unbefriedigend ist aber auch, dass Lehrpersonen die systematische Erhebung von Vorstellungen und Konzepten und deren Analyse zu Beginn des Unterrichts selbst durchführen sollen, wie das von manchen Didaktikern gefordert wird. (Kalcsics 2012, 23) Eine solche Untersuchung kann nur oberflächlich bleiben. Außerdem wird vielfach die Zeit fehlen, um den Unterricht an die gewonnenen Erkenntnisse auszurichten. Denn selbst wenn die Vorkonzepte und Vorstellungen bekannt sind, bleibt die Auswahl von Quellen, das Erstellen von Arbeitsaufgaben und die Gestaltung von Lernräumen, die sich dem konzeptuellen Lernen verpflichten, neben den vielen anderen zu berücksichtigenden Strukturierungen und anzubahnenden Kompetenzen eine große, herausfordernde und vor allem zeitraubende Tätigkeit, die oft nur schwer in die Anforderungen des Schulbetriebes integrierbar sind.

Soll die Idee des Lernens mit Konzepten, die derzeit gemeinsam mit den Lehrplänen ausgerollt wird, auch tatsächlich in den Klassenzimmern ankommen, dürfen die Lehrer/innen nicht alleine gelassen werden. Die Geschichtsdidaktik muss konsequent und rasch empirisch fundierte Grundlagen schaffen. Zusätzlich zur Erhebung von Schüler/innenvor- stellungen zu einzelnen Themen- bereichen des Geschichtsunterrichts, sollten aber auch die Ergebnisse, Analysen und Auswertung dieser Untersuchungen und darauf aufbauendend Unterrichtsmaterialien, Quellensammlungen und didaktische Vorschläge zugänglich gemacht werden. (Günther-Arndt 2003, 25) Lehrpersonen werden erst dadurch in die Lage versetzt, sich über potentiell in ihren Klassen vorkommende Vorstellungen und Konzepte zu informieren und darauf vorzubereiten.

In Anbetracht der Tatsache, dass sich Österreich zu einer postmodernen Migrationsgesellschaft entwickelt hat, erscheinen mir vor allem die Vorstellungen und Konzepte von Schüler/innengruppen interessant, die sich stark über die Herkunft und den Migrationshintergrund ihrer Vorfahren identifizieren – unabhängig davon, ob sie bereits in dritter oder vierter Generation in Österreich leben. Unterricht muss auch diesen Schüler/innengruppen attraktive An- gebote machen und Lernräume ent- wickeln. Doch weder die österreichi- sche Geschichtswissenschaft  noch die Geschichtsdidaktik haben sich bislang gezielt mit Vorstellungen spezifischer migrantischer Gruppen und Kollektive zu konkreten Themen des Geschichtsunterrichts beschäftigt. (Rupnow 2009, 3) Diese Defizite können vielfach auch nicht durch Lehrer/innen ausgeglichen werden, da auch ihnen die Erfahrungswerte in der Arbeit mit „neuen“ aber auch mit „alten“ migrantischen Minderheiten und deren Vorstellungen und Konzepten vielfach fehlen.

Es sind deshalb qualitative, thesengenerierende, gegenstands- orientierte Pilotstudien notwendig, die spezifische migrantische Minderheiten und deren Vorstellungen und Konzepte fokussieren. Denn analog zum Verhältnis von kollektivem und individuellem Gedächtnis, wie es Jan und Aleida Assmann beschreiben, (für einen Überblick siehe: Ertl 2017, 11-34) und ähnlich wie es auch die Theorien zum Geschichtsbewusstsein postu- lieren, (für einen Überblick siehe: Baumgärtner 2015, 31-46) werden individuelle Vorstellungen und Konzepte stark durch Sozialisation und damit auch durch soziale Bezugs- rahmen geprägt und strukturiert. Individuelle Vorstellungen und Konzepte entstehen erst im Zusammenspiel zwischen kollektiven und sozialen Bezugsrahmen. Auch im Rahmen von Unterricht haben es Lehrer/innen stets mit solchen individuellen, aber eben auch kollektiv strukturierten, Vorstellungen zu tun. Qualitativ orientierte, hypothesenge- nerierende Erhebungen, könnten einerseits die Basis für spätere quantitative Studien schaffen. (Günther-Arndt 2004, 220f) Andererseits könnten sie aber auch zu jener Grundlage werden, die Lehrpersonen ganz dringend brauchen, um auch für diese Schüler/innen- gruppen, zeitgemäße, moderne, gemäßigt konstruktivistische Lern- arrangements, die auf Konzeptent- wicklung abzielen, zu schaffen.

Literaturhinweise

Baumgärtner, Ulrich (2015). Ge- schichtsbewusstsein und Geschichtskultur, In: Baumgärnter, Ulrich: Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches lernen in der Schule. Paderborn: utb S. 31-46.

Ertl, Astrid (2017). Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler Verlag, Hier: Kapitel 2: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses. Eine kurze Geschichte der kulturwissen- schaftlichen Gedächtnisforschung, S. 11-34.;

Golser, Magdalena; Hellmuth, Thomas; Maresch, Dominik (2015). Meine Geschichte – deine Geschichte – wessen Geschichte? Subjektorientierte Geschichtsdidaktik, Pro- zessorientierung und konzeptuelles Lernen. In: Ammerer, Heinrich; Hellmuth, Thomas; Kühberger, Christoph  Subjektorientierte Ge- schichtsdidaktik. Schwalbach: Wochenschau Verlag S. 49-71, Hier: S. 54.

Günther-Arndt, Hilke (2016). Concep- tual Change-Forschung: Eine Aufgabe für die Geschichtsdidaktik?, In: Günther-Arndt, Hilke / Sauer, Michael (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum histori- schen Denken und Lernen. Berlin: LIT S. 27.

Günther-Arndt, Hilke (2003). Historisches Lernen und Wissenserwerb, In: Günther-Arndt, Hilke (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: LIT S. 23-47, Hier: S. 25.

Günther-Arndt, Hilke (2004). Workshop. Empirie- Probleme. Fremdverstehen, Schülervorstellungen und qualitative Forschung, In: Alavi, Bettina; Henke-Bockschatz, Gerhard (Hrsg.)  Migration und Fremd- verstehen. Geschichtsunterricht und Geschichtskultur in der multiethnischen Gesellschaft Idenstein: Schulz-Kirchner Verlag, S. 215-224, Hier: S. 218.

Hellmuth, Thomas; Kühberger, Christoph (2016). Historisches und politisches Lernen mit Konzepten In: Historische Sozialkunde. Geschichte – Fachdidaktik – Politische Bildung (1/2016). Wien: VGS S. 3-8, Hier: S. 3

Hellmuth, Thomas; Kühberger, Christoph (2016). Kommentar zum Lehrplan der Neuen Mittelschule und der AHS- Unterstufe „Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung“. Wien. Zugriff am 20. Oktober 2018 unter https://bildung.bmbwf.gv.at/schulen/unterricht/lp/GSKPB_Sek_I_2016_-_Kommentar_zum_Lehrplan_Stand_26 -09-2016.pdf?6kdmf5

Kalcsics, Katharina (2012). Subjektive Konzepte und ihre Rolle im Unterricht, In: Historische Sozialkunde. Geschichte-Fachdidaktik-Politische Bildung 42/2, Wien: VGS S. 20-27, Hier: S. 23.

Kattmann, Ulrich; Duit, Reinders; Gropengießer, Harald; Komorek, Michael (1997). Das Modell der didaktischen Rekonstruktion – Ein Rahmen für naturwissenschafts- didaktische Forschung und Entwicklung, In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaft, Jahrgang 3, Heft 3, 1997, S. 3-18. Hier S. 6ff.

Kühberger, Christoph (2015). Kompe- tenzorientiertes historisches und politisches Lernen. Methodische und didaktische Annäherungen für Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung. Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag S. 15 – 17.

Rupnow, Dirk (2009). Und was hat das mit mir zu tun? Transnationale Geschichtsbilder zur NS- Vergangenheit. S. 3. Zugriff am 10. April 2017 unter http://www.trafo-k.at/download/Transnationale_Geschichtsbilder.pdf

Schreiber, Waltraud et al. (2006). Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell. Neuried: Ars Una.

Sander, Wolfgang (2007). Vom „Stoff“ zum „Konzept“ – Wissen in der politischen Bildung In: Polis 4, 2007 S. 19-24, Hier: S. 24.;

Zülsdorf-Kersting, Meik (2007). Sechzig Jahre danach: Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation. Berlin: LIT S. 23.

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Bernhard Trautwein