Didaktik am Donnertag

"Geschichte ist tot" - Oder?

Eine Nachlese

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Wie vermittelt man Lernenden die Relevanz von Geschichte? Wie ist mit dem Umstand umzugehen, dass die Aneignung historischer Kenntnisse für die meisten Schüler/innen längst nicht mehr selbstverständlich oder gar erstrebenswert ist?  Wenn Geschichte vornehmlich als Erlebnis konsumiert, nicht als Bildung angeeignet werden will? Fest steht, dass der Hinweis auf Geschichte als Bildungsgut „an sich“ heutige Lernende kaum mehr überzeugen dürfte. Mit der im Vortragstitel implizit enthaltenen Frage nach dem Nutzen von Geschichte hat Tobias Lorenz (Universität Greifswald) insofern nicht nur eine geschichts- philosophische Kernfrage aufgegriffen, sondern vor allem eine didaktische Aufgabe, mit der Geschichtslehrende regelmäßig konfrontiert werden. Die Frage, wie man Lernenden die Relevanz von Geschichte vermittelt, bildete dann auch den roten Faden seiner Ausführungen.

Ausgehend von der curricular verankerten Forderung nach Gegen- wartsorientierung skizzierte Lorenz zunächst den Unterschied zu verwandten Konzepten wie Lebens- welt- oder Alltagsbezug, um dann im Anschluss an den Gießener Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann zwei Formen des Gegenwartsbezuges näher zu erläutern: Zum einen handelt es sich um den Gegenwartsbezug als Ursachenzusammenhang, bei dem die Vergangenheit als Vorgeschichte der Gegenwart angeordnet wird (Kausali- tätsprinzip), zum anderen um den Gegenwartsbezug als Sinnzusammen- hang durch die Übertragung his- torischer Phänomene auf gegen- wärtige Situationen. Die jeweiligen Formen erfordern nicht nur in methodischer Hinsicht unterschied- liche „Zugriffe“, sondern sie bilden auch unterschiedliche Operationen histori- schen Denkens ab und aus. Kommt im Unterricht der Sinnzusammenhang zur Geltung, so wird das diachrone Verfahren (Längsschnitt) gewählt, beim Ursachenzusammenhang üb- licherweise das „klassische“ genetisch-chronologische Verfahren. Und während beim Sinnzusammenhang der historische Vergleich ausgeführt wird, um den Lernenden verschiedene Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, dient der Ursachenzusammenhang der Orientierung in der Zeit, dem Verständnis von Entwicklungszu- sammenhängen und dem Einüben zentraler historischer Denk- und Erklärungsmuster (vorher/nachher, Ur- sache/Wirkung, Kontinuität/Verän- derung).

Theoretisch zählt der Gegen- wartsbezug längst zu den zentralen geschichtsdidaktischen Prinzipien und damit auch zu den Gütekriterien zeitgemäßen Geschichtsunterrichts (u.a. Schönemann/Thünemann 2010, Gautschi, Pandel 2013). „Geschichte kann, Geschichte soll einer historisch fundierten Gegenwartsorientierung dienen“, so der Göttinger Geschichts- didaktiker Michael Sauer in seinem Standardwerk „Geschichte unter- richten“. „Jene Themen, Fragen und Erfahrungen, die dazu beitragen können, sind für den Geschichts- unterricht bedeutsam.“ (Sauer 2001, S. 92) Unterrichtspraktisch führt dies zu der Überlegung, welche gegenwärtigen Probleme und Phänomene zum Ausgangspunkt gegenwartsbezogener Lernarrangements werden können. In diesem Zusammenhang skizzierte Lorenz an verschiedenen Beispielen, wie sich Gegenwartsbezug im Unterricht umsetzen lässt. Unter anderem führte er am konkreten Beispiel antisemitischer Zeugnisse aus, wie die Erkenntnis der Historizität von Antisemitismus der Ausgangs- punkt sein könnte für eine Diskussion über seine gegenwärtigen Erscheinungsformen.

Dass der Gegenwartsbezug nicht nur ein unverzichtbares geschichts- didaktisches Prinzip darstellt, sondern auch eine große Herausforderung bei der Unterrichtsplanung, zeigte die anschließende Diskussion über geeignete Themen. Dabei verweist die Antwort von Lorenz, dass grundsätzlich jedes Thema möglich sei, auch auf die Problematiken des Gegenwartsbezuges. Denn natürlich ließe sich jedes gegenwärtige Phänomen historisieren, und ebenso ließe sich wohl für jedes aktuelle Problem ein ähnlich gelagertes in der Vergangenheit auffinden. Damit ergibt sich aber immer das Risiko, dass aktuelle Diskurse und Probleme anachronistisch an die Vergangenheit herangetragen werden (Sinnzusam- menhang), indem „die Individualität des Vergangenen in eine allgemeine Form hineingezwängt und an allen scharfen Ecken und Linien zu Gunsten der Übereinstimmung zerbrochen“ wird. (Nietzsche) Oder es besteht das Risiko, dass Geschichte als zwangsläufige Entwicklung dargestellt wird (Ursachenzusammenhang), indem den Lernenden eine monokausale Meistererzählung präsentiert wird. Die Oldenburger Geschichtsdidaktikerin Hilke Günther-Arndt hat in diesem Zusammenhang von einem „undifferenzierten Gegenwartsbezug“ bzw. einem „allmächtigen Gegenwartsdenken“ gesprochen. Demnach zeigten empirische Studien, dass Schüler/innen sich die Vergangenheit kaum anders vorstellen können als „die Gegenwart in einer anderen Epoche“. (Günther-Arndt 2003, S. 29) Im Plenum war man sich daher einig, dass es im Unterricht vor allem darum gehen sollte, Unterschiede sichtbar zu machen (Alterität) und Alternativen aufzuzeigen.

Resümierend ist Lorenz` Plädoyer, dass grundsätzlich jeder historische „Stoff“ auf seinen Gegenwartsbezug hin überprüft werden muss, unbedingt zuzustimmen. Seine Ausführungen und die angeregte Diskussion im Anschluss verdeutlichen einmal mehr, dass der Gegenwartsbezug ein unverzichtbarer Bestandteil historisch-politischen Unterrichts ist. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Gegenwarts- bezüge immer Konstruktionen sind. Im Sinne eines Unterrichts, der den Konstruktcharakter von Geschichte konstitutiv in historische Erkenntnis- und Lernprozesse einbezieht, sollte dies den Schülerinnen und Schülern allerdings auch transparent gemacht werden.

Literatur

Bergmann, Klaus (2002). Der Gegenwartsbezug im Geschichts- unterricht. Schwalbach/Ts: Wochen- schau Verlag.

Günther-Arndt, Hilke (2003). Historisches Lernen und Wissenserwerb. In: Dies. (Hrsg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen, S. 23-47.

Nietzsche, Friedrich (1996) Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Ungekürzte Fassung. München: dtv.

Sauer, Michael (92001). Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. Seelze-Velber: Kallmeyer.

Barbara Hanke