Subjektorientierung in der Geschichts- und Politikdidaktik
Der Begriff „Sub- jektorientierung“ erscheint auf den ersten Blick als eine – etwas hochtrabende – Umschreibung des „alten“ didak- tischen Prinzips der „Schüler-“ bzw. „Adres- satenorientierung“. Tatsächlich stellt aber die subjektorientierte Ge- schichtsdidaktik die Schüler- bzw. Adressatenorientierung noch stärker als bisher auf eine theoretisch-methodische Basis, indem sie diese mit lebensweltlichen, system- theoretischen und konstrukti- vistischen Überlegungen verbindet. Der Lernende wird nicht, wie die Schüler*innen- oder Adres- satenorientierung landläufig ver- standen wird, nur dort „abgeholt“, wo er gerade „steht“. Vielmehr rückt die Subjektorientierung das Individuum in den Mittelpunkt von Lehr-Lern-Prozessen, knüpft dabei an bisherige lebensweltliche Erfahrungen und Konzepte an, die aus Soziali- sationsprozessen resultieren, und schließt dabei an fachwissen- schaftliche, fachdidaktische und allgemeine didaktische Traditionen und Trends an. Dazu gehören die konstruktivistische Geschichts- und Politikdidaktik, damit im Zusam- menhang auch die Individualisierung und Differenzierung sowie die Neue Kulturgeschichte, wobei hier vor allem auch die Gedächtnis- bzw. Erinnerungstheorien eine zentrale Rolle spielen. Explizit ist daher zu betonen, dass Subjektorientierung das Individuum nicht isoliert von anderen, sondern immer auch im sozialen Kontext betrachtet, als ein partiell autonomes Wesen, dass aber dennoch von Sozialisationsprozessen geprägt ist und diesen nicht vollständig entkommen kann.
Einige theoretische Aspekte einer subjektorientierten Geschichts- und Politikdidaktik seien im Folgenden skizziert:
- Schüler- bzw. Adressaten- orientierung bedarf der Überlegungen zum Begriff der Lebenswelt: Diese beinhaltet – im Sinne von Alfred Schütz – Regeln und Normen, Deu- tungsschemata (die Erleb- nisse und Erfahrungen struk- turieren und ihnen subjektiven Sinn verleihen) Gegenstände, individuelles und kollekti- ves/interaktives Handeln von Menschen, Kommunikation durch diverse Formen von Medien sowie Ereignisse, die den Menschen beeinflussen und dessen individuelle Be- dürfnissen Widerstände ent- gegensetzen können. Zu- gleich kann der Mensch aber auch in dieser Lebenswelt wirken, in sie eingreifen und sie – nach eigenen und kollektiven Bedürfnissen – verändern.
- Unterricht bzw. eine Schul- klasse ist – im Sinne der Systemtheorie von Niklas Luhmann und letztlich auch aus den Überlegungen zur Lebenswelt ableitbar – als ein eigenes, von den Lernenden und Lehrenden gestaltetes soziales System zu betrach- ten, das sich infolge von Kom- munikationsprozessen kon- stituiert. In einem solchen System existieren bestimmte Regeln und Codes, die zum Teil von außen herangetragen, übernommen und häufig transformiert oder selbst er- zeugt werden. Die Lehrperson ist im System Klasse bzw. Unterricht zwar an die vorgegebenen Regeln und Codes gebunden, sie kann aber auch versuchen, diese zu verändern, zumal sie ja ein Teil des Systems ist.
- Da die Menschen (freilich unvermeidbar) in eine Le- benswelt eingebunden sind, ist die individuelle Sicht auf die Welt zum Teil vorgegeben. Menschen können aber auch die Lebenswelt verändern und bringen somit individuelle Konstruktionsleistung hervor, die neue Perspektiven eröffnen und wiederum in der Lebenswelt – immer freilich im sozialen Kontext – verankert werden können. In diesem Zusammenhang kommt dem „konzeptuellen Lernen“ Bedeutung zu. Dieses
beruht erstens auf der Überlegung, dass jeder Mensch bestimmte Konzepte, d.h. Vorstellungen von der Welt besitzt. Diese sind von individuellen Erfahrungen, durch Erziehung und Sozialisation geprägt. Die Lehrenden haben daher Lernräume zu schaffen, die einen Konzeptwechsel („con- ceptual change“) bzw. die Weiterentwicklung von „prior conceptions“, die zumeist noch wenig differenziert sind, durch elaborierte, wissenschaftlich fundierte Konzepte gewähr- leisten.
Zweitens sind Konzepte als Orientierungspunkte zu ver- stehen, die der Strukturierung historischen Wissens dienen und isoliertes Wissen mit- einander verbinden. Zudem helfen sie Lehrerinnen und Lehrern bei der Unter- richtsplanung, indem sie den Lehr- bzw. Lernstoff durch zentrale Aspekte reduzieren und komprimieren. Wichtig ist dabei, dass Konzepte nicht vom Lehrenden bzw. der Lehrenden inhaltlich definiert werden. Vielmehr sind sie als „Gefäße“ zu betrachten, die die Ler- nenden selbst – über die Schulstufen und Themen hinweg – ständig mit Inhalten füllen und die somit individuell variieren können.
Aus diesen theoretischen Über- legungen lassen sich folgende didaktische Axiome herausarbeiten:
- Die Unterrichtsplanung muss sich an den jeweiligen Lernenden orientieren, indem sie ihm die größtmögliche Autonomie bei Lernprozessen gewährt. Lernende sind zwar sozialisiert und aufgrund von Sozialisationsprozessen nicht völlig autonom, sie können aber durch diesen Freiraum auch Neues schaffen und auch neue, sehr individuelle Perspektiven entwickeln. Da- bei sollen die Lernenden sich auch ihrer sozialen Ab- hängigkeit bewusst werden und sich dadurch auch bis zu einem bestimmten Grad emanzipieren.
- Die/Der Lernende ist aber immer auch in ihrem/seinen sozialen Kontext, als Teil eines sozialen Systems, insbesondere der Schulklasse und des Unterrichts, zu erfassen. Je nach Klasse und Unterricht müssen von der Lehrperson somit unter- schiedliche didaktische Über- legungen angestellt und auch didaktische Ad-hoc-Entschei- dungen getroffen bzw. auf konkrete Unterrichtssitua- tionen reagiert werden.
- Bei der Unterrichtsplanung ist die individuelle „Lernprogres- sion“ zu berücksichtigen, wobei hier auf Alter und Entwicklung, auf un- terschiedliche Herkunft und divergierende Bildungsvor- aussetzungen einzugehen ist. Von dieser Lernprogression hängen auch die jeweiligen Konzepte der Schüler*innen ab. Die Differenzierung dieser Konzepte ist nur möglich, wenn man diese tatsächlich eruiert. Dabei ist der Weg zu einem individualisierten Un- terricht letztlich unvermeid- lich.
Die GDÖ-Jahres- tagung 2018, die in Kooperation mit der Univer- sität Wien und der Pädagogischen Hochschule Wien am 21. und 22. September 2018 an der Universität Wien stattfinden wird, widmet sich unter dem Titel „Schüler*innen denken Geschichte. Subjektorientierung im Geschichts- unterricht und in der Politischen Bildung“ dem skizzierten Thema. Dabei werden einerseits theoretische Grundlagen und empirische For- schungsergebnisse präsentiert und andererseits auch die praktische Umsetzung und damit verbunden adäquate Unterrichtsmethoden dis- kutiert.