Didactic news 5/2020

Bürgerbewusstsein

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Demokratie entwickelt und erneuert sich kontinuierlich. Im Kontext von Globalisierung und Diversität sowie angesichts des Wandels von Staatlichkeit verändern sich die Bedingungen für politische Partizipation und für zivilgesellschaftliches Engagement. Politische Bildung interessiert sich für die kollektiven und individuellen Lernprozesse, die im Kontext des sozialen Wandels entstehen. Die Didaktik der Politischen Bildung fragt sie nach Lernprozessen und Hand- lungsoptionen, die Bürger*innen vollziehen oder vollziehen können, um Mündigkeit, politische Teilhabe und zivilgesellschaftliche Verantwortung im Kontext gesamtgesellschaftlicher Veränderungen zu erhalten. Das normative Ziel einer Didaktik der Demokratie stellt die Befähigung der Menschen zu politischer Selbstbestimmung dar. Dabei geht es auch darum, demokratische Grundwerte als Orientierungspunkte politischen Denkens und Handelns zu reflektieren.

Für die Politische Bildung sind also nicht nur Fragen des Transfers von wissenschaftlicher in lebensweltliche Erkenntnis relevant, sondern vor allem die lebensweltlichen Sinnbildungen der Bürger*innen selbst. Von demokratiedidaktischem Interesse ist die subjektive Dimension. Ich begreife diese politisch-kulturelle „Innen- ausstattung“ der Demokratie als Bürgerbewusstsein. Es entsteht in diskursiven und kulturellen Kontexten und bestimmt mit darüber, wie Bürger*innen ihre Autonomie leben (können). Das Bürgerbewusstsein wandelt sich in Lernprozessen und ist durch Politische Bildung zu aktivieren. Es stellt eine zentrale Kategorie der Didaktik der Politischen Bildung dar.

Die Politische Bildung fördert das Bürgerbewusstsein mit dem Ziel der Mündigkeit der Bürger*innen. Ausgehend von dieser Substanz sind in den Sinnbildungen des Bürgerbe- wusstsein die disziplinären Bezüge der Politischen Bildung zu suchen. Für meine didaktische Forschung habe ich eine Heuristik von fünf Sinnbildern des Bürgerbewusstseins entwickelt: Vorstellungen darüber, wie sich Individuen in die und zu einer Gesellschaft integrieren (Verge- sellschaftung), darüber, welche allgemein gültigen Prinzipien das soziale Zusammenleben leiten (Wertbegründung), darüber, wie Bedürfnisse durch Güter befriedigt werden (Bedürfnisbefriedigung), darüber, wie sich sozialer Wandel vollzieht (Gesellschaftswandel) und darüber, wie partielle Interessen allgemein verbindlich werden (Herrschaftslegitimation). Diese subjektiven Sinnbildungen vollzieht jeder Mensch unabhängig vom Bildungsgrad. Es handelt sich um eine Fachlichkeit im Denken der Bürger*innen selbst. Dieses fachliche Denken über das Politische ist der Ausgangspunkt meiner fachdidak- tischen Überlegungen.

Demnach bestimmen nicht die Bezugswissenschaften den fachlichen Zuschnitt der Politischen Bildung. Der fachliche Zuschnitt des Bürgerbewusstseins bestimmt die didaktisch sinnvollen fachdisziplinären Bezüge. Die traditionelle Fachdidaktik als Vermittlungswissenschaft fand ihre Gegenstände in den Bezugswissen- schaften, legitimierte, reduzierte und methodisierte sie didaktisch und transferierte sie in das Denken der Lernenden. Eine moderne Fachdidaktik geht den entgegengesetzten Weg. Sie findet die fachlichen Gegenstände im Bürgerbewusstsein der Lernenden und didaktisiert diese, indem adäquate Lernanlässe im Alltag und in den Wissenschaften gesucht werden.

Kompetenzorientierung sollte als Gegenmodell zur didaktischen Defizitorientierung entwickelt werden. Defizitorientierter Politikunterricht will Wissen austauschen, indem Miss- oder Fehlkonzepte durch richtiges Wissen ersetzt werden. Kompetenzorientierter Politikunterricht hingegen sollte an dem politischen Wissen ansetzten, das im politischen Alltag aktiviert wird. Die politische Kompetenz wird dann in den mentalen Modellierungen der Lernenden – im Bürgerbewusstsein – sichtbar.

Die zentrale Kompetenz, die in der Politischen Bildung entwickelt wird, ist die Kompetenz zur politischen Sinnbildung. Hierbei bedient sich der Mensch seines Bürgerbewusstseins (oder mit anderen Worten: seiner mentalen Modellierungen oder seines konzeptuellen Deutungswissens über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft), um sich in der politischen Wirklichkeit zu orientieren, um die politische Wirklichkeit zu beurteilen und um in der politischen Wirklichkeit zu handeln. Es geht um politische Urteilskraft.

Die Politische Sinnbildungs- kompetenz lässt sich in die drei Bereiche Orientierungskompetenz, Urteilskompetenz und Handlungs- kompetenz unterscheiden. Die politische Orientierungskompetenz umfasst die Fähigkeit, die politische Welt zu sehen und begrifflich zu verstehen. Hierzu zählt auch die (sozialwissenschaftliche) Methoden- kompetenz. Zur politischen Urteilskompetenz zählt neben der Befähigung zum Sach- und Werturteilen insbesondere die Kritik- fähigkeit. Mündigkeit basiert auf der Fähigkeit, gesellschaftliche Bedingungen und soziale Voraussetzungen zu hinterfragen und zu überschreiten. Die politische Handlungskompetenz bezeichnet die Fähigkeit zur politischen und gesellschaftlichen Partizipation.

Die Orientierung an Konzepten des fachlichen Denkens eröffnet der Politischen Bildung einen Zugang zu den Lernvoraussetzungen und zu den Lernprozessen. Im Lernen erweitern und erneuern sich die subjektiven Konzepte über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Für die Didaktik der Politischen Bildung ist von Interesse, wie Lernende fachlich denken und für sich selbst Politik sinnhaft machen. Es geht um die Sinnbilder und Sinnbildungen, durch die sich Lernende die politisch-gesellschaftliche Wirk- lichkeit erklären. Dieser subjektive Sinn ermöglicht das politische Sehen, das politische Urteilen und das politische Handeln.

Politisches Lernen lässt sich weder als Adaption von Vorgegebenem noch als Aneignung von Realität hinreichend beschreiben. Es handelt sich um eine kreative Auseinandersetzung mit einer politischen Wirklichkeit, die dadurch zugleich interpretiert und geschaffen wird. Im Lernen erweitern und erneuern sich die subjektiven Konzepte über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Für die Didaktik der Politischen Bildung ist von Interesse, wie Lernende fachlich denken und für sich selbst Politik sinnhaft machen. Es geht um die Sinnbilder und Sinnbildungen, durch die sich Lernende die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit erklären. Dieser subjektive Sinn ermöglicht das politische Sehen, das politische Urteilen und das politische Handeln.

Politisches Lernen ist ein komplexer Wandel subjektiver politischer Vorstellungswelten. Indem die Politische Bildung ihr fachliches Proprium aus den mentalen Modellierungen der Schülerinnen und Schüler schöpft, gewinnt sie in der empirischen Erhebung des Wandels des Bürgerbewusstseins ihr originäres Forschungsfeld. Im letzten Jahrzehnt sind einige interessante Dissertationen und Forschungsvorhaben zu den fachlichen Vorstellungen von Lernenden durchgeführt worden. Die qualitative Untersuchungsanlage nach dem Forschungsrahmen der politikdidaktischen Rekonstruktion eröffnet einen tieferen Einblick in die Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler. Auch erste Verall- gemeinerungen können vorgenommen werden. Gleichwohl wissen wir als Disziplin noch viel zu wenig darüber, mit welchen Begriffen, Termini und Symbolen Lernende das Politische erfassen. Es ist nur selten die Sprache der Wissenschaft. Zu den Herausforderungen der Didaktik der Politischen Bildung zählt es, die subjektiven Konzepte empirisch zu erforschen.

Dirk Lange