Didactic news 11/2020
Kompetenzen und Basiskonzepte - Angst vor dem historischen Wissen?
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Kompetenzen und Basiskonzepte
Historisches Denken, so schreibt Jörn Rüsen, das ist „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ im Modus der Narration. Er hat damit 1983 die Zauberformel geschaffen, auf die sich deutschsprachige Geschichtsdidak- tikerinnen und Geschichtsdidaktiker gerne beziehen. Im Zuge von Historischem Denken, so der weitgehende Konsens, werden eigene Erfahrungen und kulturell tradierte fremde Erfahrungen und Wissensbestände von Vergangenheit zu Vorstellungen von Vergangenheit verknüpft. Diese müssen erzählbar sein, den Anforderungen und Bedürfnissen jener Milieus, Kollektiven und sozialen Bezugsgruppen entsprechen, die für Menschen in der postmodernen Gesellschaft bedeut- sam sind beziehungsweise von diesen als bedeutsam erachtet werden und ein Orientierungsbedürfnis befriedigen.
Bei der Sinnbildung greift historisches Denken also auf historisches Wissen zurück.(1) Dieses wird aus der Perspektive der Kognitionspsychologie in episodische, semantische, prozedurale und perzeptuelle Wissensbestände, eingeteilt.(2) Epi- sodisches Wissen beinhaltet die eigenen primären Erfahrungen; semantisches Wissen kulturell tradierte sekundäre Erfahrungen und Wissensbestände zur Vergangenheit. Verfahrensweisen, Scripts, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zur Verarbeitung des episodischen und des semantischen Wissens notwendig sind, werden zum prozeduralen Wissen gezählt. Das perzeptuelle Wissen umfasst Konzepte, Modelle und Theorien, entlang derer semantische und episodische Wissensbestände miteinander verknüpft und mit Bedeutung aufgeladen werden und auf deren Grundlage neues Wissen, neue Informationen und neue Erfahrungen eingeordnet werden.(3)
Historisches Lernen besteht im Verändern dieser hochkomplexen, ineinandergreifenden, mentalen Struktur.(4) Das Ziel, das in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik dabei angestrebt wird, ist klar: Historisches Denken muss so verbessert werden, dass Menschen zu einem bewussten, kritischen, rationalen und wissenschaftsorien- tierten Umgang mit Vergangenheit befähigt werden. Wie dieses Ziel erreicht werden soll, erklärt die Geschichtsdidaktik mit den diversen Kompetenzstrukturmodellen und einem Kanon an Basiskonzepten, die den konzeptuellen Kern historischen Denkens abbilden (sollen). In beiden Fällen handelt es sich um aus geschichtstheoretischen Überlegungen abgeleitete Theorien, die begründen, welche Wissensbestände des perzeptuellen und des prozeduralen Gedächtnisses im Rahmen von institutionalisiertem historischen Lernen aufgegriffen, angebahnt, aufgebaut und weiterentwickelt werden müssen. Die prozeduralen Wissensbestände beziehungsweise die Fähigkeiten, Fertigkeiten, Bereit- schaften und Scripts, die im Unterricht aufgegriffen, gelehrt, geübt, trainiert, angebahnt und weiterentwickelt werden müssen, werden in Österreich durch das FUER-Modell(5) normativ geregelt.(6) Der von Christoph Kühberger entlang von drei Dimensionen aufgespannte Kanon von 16 Basiskonzepten(7) gibt Lehrenden eine geschichtstheoretische fundierte Antwort auf die Frage, welche Konzepte im Rahmen des Geschichtsunterrichtes aufgegriffen, behandelt und auf- beziehungsweise ausgebaut werden müssen. Die Kompetenzmodelle und der Basiskonzeptekanon sind aus der Geschichtstheorie abgeleitete Systeme. Sie können sich zumindest theoretisch auf alle historischen Settings und alle möglichen historische Fallbeispiele beziehen. Außerdem sind sie geschlossene Systeme, die einen universellen Charakter haben und die auch von Wandel, veränderten Orientierungsbedürfnissen und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen unberührt bleiben werden. Die Gefahr besteht nicht, dass Basiskonzepte und prozedurale Fähigkeiten, Fertigkeiten, Scripts und Bereitschaften irgendwann obsolet, unbrauchbar oder überholt werden, oder auch einfach nur falsch sind. Für das Planen von Geschichtsunterricht und historischem Lernen hat sich die Geschichtsdidaktik damit zweifelsohne – manchmal verkannt – große Verdienste erworben. Kompetenzmodelle und Basiskonzepte sind mehr oder weniger klare Orientierungsmarken, die Lehrerinnen und Lehrern die Entscheidung abnehmen, welche konzeptuellen und perzeptuellen Wissensbestände sie in ihrem Unterricht aufbauen und verändern müssen.
Dabei wird jedoch auf die deklarativen Wissensbestände vergessen. Denn auf die Frage, welche deklarativen Wissensbestände im Rahmen von Unterricht konkret aufgegriffen, vermittelt und weiterentwickelt werden sollen, hat die Geschichtsdidaktik keine fundierte und theoretisch begründete Antwort. Zu groß ist offenbar die Angst vor dem volatilen Charakter deklarativer historischer Wissensbestände. Deklarative Wissensbestände, so wird gerne argumentiert, sind träge, selektiv, könnten sich zu einem späteren Zeitpunkt als wissenschaftlich falsch herausstellen und möglicherweise für die Lernenden subjektiv irrelevant sein beziehungsweise noch irrelevant werden. Deklaratives Wissen wird deshalb als sekundär betrachtet. Um Kompetenzen üben und Basiskonzepte thematisieren zu können, wird deklaratives Wissen lediglich in Form von Arbeitswissen zur Verfügung gestellt.(8) Allerdings ist dieses nur situativ verfügbar, sedimentiert nicht in das semantischeGedächtnis, löst sich nach dem Ende der Übung in der Regel wieder rückstandslos auf und steht damit außerhalb der Unterrichtssituation nicht für historisches Denken zur Verfügung.
Die Verengung auf non-deklarative Wissensformen führt dazu, dass die lebensweltlich verankerten deklarativen Wissensbestände, die Lernende im Laufe ihrer Sozialisation erwerben, nicht zum Gegenstand von historischem Lernen gemacht werden. Freilich werden verbesserte Fähigkeiten, Fertigkeiten, Scripts und Konzepte in gewissem Maße wohl auch auf lebensweltliche Vorstellungen zurückwirken. Trotzdem bleiben die Lernenden mit diesen alleine. Vorstellungen, die aus wissenschaftlicher und gesell- schaftlicher Perspektive nicht nur wenig elaboriert, nicht adäquat oder falsch, sondern auch problematisch und mitunter gefährlich sind, bleiben
so unberührt. Ob ein auf der Grundlage solcher problematischer Vorstellungen operierendes Geschichtsbewusstsein noch als rational, wissen- schaftsorientiert, reflektiert und (selbst)reflexiv bezeichnet werden kann, ist dabei mehr als fraglich. Bei aller Problematik, die mit dem Charakter von deklarativen Wissensbeständen einhergeht, darf historisches Lernen deshalb nicht auf non-deklarative Wissensformen verengt werden, sondern muss sich auch der deklarativen Wissensbestände der Lernenden annehmen. Dabei dürfen Lehrerinnen und Lehrer aber nicht alleine gelassen werden. Derzeit ist es so, dass sich bei der Entscheidung, welche deklarativen Wissensbestände im Rahmen von historischem Lernen aufgebaut werden sollen, Lehrpersonen an den Lehrplänen und den dort verankerten thematischen Konkretisierungen orientieren müssen. Allerdings ist dieser Kanon an Wissensbeständen zum Teil sehr offen formuliert und weder durch geschichtstheoretische noch durch geschichtsdidaktische Überlegungen abgesichert, sondern das Ergebnis eines politischen Entscheidungsprozesses. Letztlich müssen die Lehrerinnen und Lehrer also selbst entscheiden und hoffen, dass sich ihre Auswahl später als glücklich herausstellen wird und dass das Wissen, für das sie sich entschieden haben, für die Schülerinnen und Schüler bedeutungsvoll ist und bleibt und aus wissenschaftlicher Perspektive nicht irgendwann einmal obsolet wird. Auf theoretisch fundierte Auswahlkriterien können sie dabei nicht zurückgreifen.
Ein Zugang, auf dessen Grundlage Lehrerinnen und Lehrer bei der Auswahl der zu vermittelnden historischen Wissensbestände nicht mehr ausschließlich auf Glück angewiesen sind, findet sich im Modell der didaktischen Rekonstruktion.(9) Dieser, eigentlich aus den Didaktiken der Naturwissenschaften kommende Zugang, wurde mittlerweile auch in der Geschichtsdidaktik wahrgenommen und an die domänenspezifischen Bedürfnisse angepasst.(10) Aus- gangspunkt dieses streng subjektorientierten Zugangs sind die alltäglichen Vorstellungen und historischen Wissensbestände, die Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Sozialisation zu bestimmten Themenbereichen aufgebaut haben und auf deren Grundlage alltägliches historisches Denken funktioniert. Diese alltäglichen Prä-Konzepte und Wissensbestände werden zum Gegenstand des Unterrichts gemacht. Ziel ist es, Lernarrangements zu entwickeln, in denen Schülerinnen und Schüler zur Weiterentwicklung dieser Wissensbestände motiviert werden. In welche Richtung diese Weiter- entwicklung gehen soll, gibt die Geschichtswissenschaft vor. Dazu ist es notwendig, in der Geschichtswissenschaft nach wissenschaftlichen Vorstellungen zu suchen, die sich mit den Schülerinnen- und Schülervorstellungen überschneiden, diese zum Thema machen oder diesen diametral entgegenstehen. Damit kann sichergestellt werden, dass die deklarativen Wissensbestände, die im Unterricht zum Thema gemacht werden, für die Schülerinnen und Schüler von Bedeutung sind; gleichzeitig ist die Entscheidung für oder gegen bestimmte deklarative Wissensbestände nicht mehr eine ausschließlich subjektive Lehrer- entscheidung, sondern bekommt eine Begründung.
Die Herausforderung besteht in der Identifizierung der Schülerinnen- und Schülervorstellungen. Das Modell der didaktischen Rekonstruktion operiert dabei mit Methoden aus der empirischen Sozialwissenschaft, die mittels Inhaltsanalyse oder dokumentarischer Methode ausgewertet werden. In der unterrichtlichen Praxis ist das freilich unmöglich. Allerdings stehen auch Lehrerinnen und Lehrern eine Reihe an mehr oder weniger aufwendigen Methoden zur Erhebung des Vorwissens der Schülerinnen und Schüler zur Verfügung. So können Brainstormings durchgeführt werden, Standbilder entworfen oder Mindmaps und Tabellen angelegt werden. Trotzdem haben diese Methoden eine enden wollende Aussagekraft. Zudem wird es auch der erfahrensten Lehrerin beziehungsweise dem erfahrensten Lehrer nicht immer möglich sein, Unterricht spontan an diese Vorstellungen anzupassen. Dazu kommen noch weitere Herausforderungen. So gibt es durchaus auch Vorstellungen, die Lehrerinnen und Lehrern gänzlich fremd sind und die erst einer intensiven Auseinandersetzung bedürfen. Letztlich ist auch ein solcher Zugang nicht zumutbar.
Die Erhebung von Schülerinnen- und Schülervorstellungen muss letztlich Aufgabe der Geschichtsdidaktik sein. Die Geschichtsdidaktik, die sich mit ihren Kompetenzstrukturmodellen und Basiskonzepten zweifelsohne verdient gemacht hat, sollte sich wieder vermehrt auf die Inhalte historisch-politischen Denkens besinnen. Es ist ihre Aufgabe, sich damit zu beschäftigen, diese zu erheben und Lehrerinnen und Lehrern zur Verfügung zu stellen, damit diese, ganz im Sinne der didaktischen Rekonstruktion, die deklarativen Wissensbestände der Schülerinnen und Schüler mit wissenschaftlichen Vorstellungen in Beziehung setzen können. Denn historisches Denken besteht nicht allein aus Fähigkeiten, Fertigkeiten, Scripts und Konzepten, sondern auch aus deklarativen Wissensbeständen. Und um historisches Denken zu verbessern, müssen eben auch diese im Rahmen von historischem Lernen zum Thema gemacht werden. Wobei es bei aller Problematik von deklarativen Wissensbeständen auch darum geht, Lehrerinnen und Lehrern fundierte Grundlagen für die Stoffauswahl, die sie jede Geschichtestunde treffen müssen, zur Verfügung zu stellen.
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